„Multiple Sklerose – Personal Training für Autonomie“. Ich musste vor vielen Jahren skeptisch schmunzeln, als ein Klient von mir prognostizierte: „Viele deiner zukünftigen Klienten werden mit deinen gestiegenen Erfahrungen als Personal Trainer auch außergewöhnlichere Trainingsmotive an dich herantragen. Es wird dabei zunehmend weniger um ein „Sixpack“ gehen.“ Er hatte recht! Wir als Trainer wissen, der Körper folgt dem Geist und dennoch ist die Zielsetzung so manch spezieller Trainingsstunde eine „Umkehrung“ herzustellen. Dann, wenn der Geist durch Training dahingehend massiv befruchtet werden soll, dass er freudig wahrnehmen kann, dass der Körper seinen „Dienst“ wie gewünscht verrichten kann.
Ich möchte mit folgendem Artikel Kollegen ermutigen, sich fern üblicher Trainingsinhalte durchaus auch mit Training bei schwerwiegenden Erkrankungen zu befassen und heranzuwagen. Was Rehabilitationstraining anbelangt, welches zB. die Knie, Rücken, Schulterproblematiken nach Verletzungen oder OP behandelt ist vielen bekannt. Auch die Nachsorge nach einem Herzinfarkt oder einer Krebserkrankung wird heute nicht mehr so selten durchgeführt.
Auch wenn hier jeder Fall individuell zu betrachten ist, erfolgt der Ablauf jedoch immer recht klar strukturierten chronologischen Aufbautrainingsmaßnahmen. Wie kann jedoch ein Training bei einer neurologischen Krankheit aussehen, die den Beinamen „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“ trägt?
Training bei MS bedeutet gegen einen unbekannten und unberechenbaren Gegner zu arbeiten
Es gibt sicher viele Diagnosen, die durch ihre sehr schlechte Prognose und dem Stigma „unheilbar“ einen Schrecken und massive Zukunftsangst bei den Betroffenen und deren Umfeld hervorrufen. Aber, nicht alle Betroffene denken das es sinnvoll ist, sich seinem Schicksal zu ergeben und eine passive Haltung einzunehmen.
Die Kurzform MS steht für Multiple Sklerose, ist eine solche und in vielen Verlaufsformen häufig progressiv. Die Multiple Sklerose gehört zur Gruppe schwerer Neurologischer Erkrankungen, bei der eine Autoimmunreaktion angenommen wird. Eine Autoimmunreaktion bedeutet eine krankhafte Reaktion des Immunsystems gegenüberkörpereigenem Gewebe. Die Forschung ist sich noch uneinig darüber, wie und durch was dieser chronisch entzündliche Prozess genau entsteht, der die äußere Schicht der Nervenfasern im Zentralnervensystem angreift. Im Fachjargon spricht man von einer sogenannten Entmarkungserkrankung, was für die Schädigung der Neuronen (Nervenzellen) steht. Die Vermutung ist, dass körpereigene Abwehrzellen entzündliche Entmarkungsherde in der weißen Substanz von Gehirn und Rückenmark und deren Zellstruktur verursachen.
Im gesamten Zentralnervensystem können diese Entzündungsherde auftreten und dem Patienten mit einer Vielzahl von sehr einschränkenden neurologischen Symptomen das Leben mit seinem Alltag extrem erschweren. Nervenschädigungen zeigen sich symptomatisch in Sinnesstörungen, Taubheitsgefühlen in den Extremitäten, Spastiken, Gangstörungen, Kraft- und Balanceverlust, geringe Belastbarkeit, mitunter kongnitiven Schwächen und Schlafstörungen. Diese Krankheit gilt als unberechenbar und zeigt sich im Verlauf durch Krankheitsschübe, die oft mit einem Verlust motorischer Fähigkeiten einhergehen.
Das ist nicht nur Belastung für den Körper sondern vor allem für den Geist, was die seelische Gesundheit massiv verschlechtert. Es gibt unterschiedlichste Verlaufsformen und Schweregrade, die es unmöglich machen für jeden Einzelfall eine gesicherte Prognose in seinem detaillierten Verlauf zu stellen. Während einige Patienten bis ins hohe Alter mit nur einigen Symptomen völlig unabhängig leben können, ist für andere Hilfe und- Pflegebedürftigkeit früh und im späteren Erkrankungsverlauf der Rollstuhl unvermeidlich.
Studien bestätigen Sport als wichtigen Therapiefaktor
Die MS ist nicht heilbar, aber mit der 3 Säulentherapie kontrollierbar, die aus Akut- und Langzeitbehandlung mit Medikamenten und begleitenden Maßnahmen besteht. Und Sport gehört seit geraumer Zeit auch in diesen Maßnahmenkatalog wie neuere Studien belegen.
Die Forschung und Studienergebnisse sprechen eine eindeutige und vor allem positive Sprache wenn wir die Ergebnisse der „ms-intakt“ Studie aus 2011 anschauen. Ein gemeinsam durchgeführtes Projekt des Instituts für Sportwissenschaft und Sport der Universität Erlangen, Arbeitsbereich Bewegung und Gesundheit von Prof. Klaus Pfeifer, und der Klinik für Neurologie des Caritas-Krankenhauses Bad Mergentheim kommen zu dem Schluss:
Die Ergebnisse bei 120 MS Patienten, die zu Hause 6 Monate lang ein angeleitetes sporttherapeutisches Training durchgeführt haben, zeigen: „das das Kräftigungs- und Ausdauertraining von den Patienten nicht nur gut angenommen wird, sondern dass Verbesserungen durch Training in den Bereichen kardiovaskuläre/ventilatorische Funktion und Maximalkraft sowie Lebensqualität, Fatigue und Depression zu erwarten sind.
Multiple Sklerose – Personal Training für Autonomie heißt handeln statt abwarten
„Es ist manchmal das Gefühl als wäre ich nicht in meinem Körper“, so die Aussage einer äußerst positiven und mutigen Klientin, die ich seit über einem Jahr bei ihrem Training betreuen darf. Motiviert, inspiriert und informiert über die Studienergebnisse, ist diese recht zeitnah nach der Diagnosestellung an mich herangetreten um ein Training zusammenzustellen. Und so trainieren wir mit Ergebnissen, die die angesprochene Studie bestätigen.
Empathie statt Mitleid ist hier ein zentraler Bestandteil bei der Trainingsbegleitung. Inhaltlich geht es für uns im Trainingsteam hierbei nicht darum, ein schneller, höher, weiter auf der Skala „Superfitness“ anzustreben. Sportanimation gegen Hüftspeck und „Life Workbalance für gestresste Leistungsträger“, sind sicher schöne und luxuriöse Trainingsinhalte von gewünscht bleibendem Wert. Bei MS geht es um mehr, nämlich um den schieren „Lebenswert“. Man braucht eine Balance, zwischen dem was der Kopf denkt und dem was der Körper fühlt. Darum sind beide Seiten beim Training zu betrachten und zu trainieren.
Körperlich heißt das „Functional Training“, um tatsächlich wesentliche und lebenswichtige Funktionen möglichst lange Zeit verfügbar zu machen. Das fängt beim Laufen an und setzt sich über viele Alltagsverrichtungen fort. Es ist hier wichtig, die für viele Menschen selbstverständliche Autonomie und Selbstständigkeit für den Klienten zu erhalten. Mental geht es immer wieder darum, besonders in schwierigen Situationen, mit dem Klienten ein Gedankengerüst zu erbauen welches den Klienten trägt.
Richtige Autosuggestion als wichtigen Begleiter des körperlichen Trainings mitnehmen
Er braucht Werkzeuge für eine positive innere Kommunikation, um so Schulungsangebote für Körper und Geist zuzulassen. Permanente Selbstüberpüfung, jedes neue Symptom oder einen erneuten Krankheitsschub ohnmächtig zu erwarten ist hingegen nicht zielführend. Und dennoch kann auch eine flexible inhaltliche Neuausrichtung der Trainingsmaßnahmen nach einem Krankheitsschub erforderlich werden.
Auch bei MS ist es möglich durch körperliches Training gewohnte Fähigkeiten zu stärken. Sport und allgemeine Bewegung präventiv einzusetzen bedeutet:
- Vorbeugung gegen Folgekomplikationen bei Passivität wie Schwäche durch Muskelatrophie, Osteoporose, Kontrakturen durch Fehlstellung der Gelenke, Thrombosen
- andere körperliche Funktionsstörungen werden ausgeglichen zB. Verbesserung der Koordination, Normalisierung von Herz-Kreislauffunktion, Blutdruck, Blutzucker, evtl. Gewichtsreduktion, Stabilisierung des Immunsystems
- sich im Alltag sicherer fühlen, eventuell auch im Gebrauch von “ Alltagshandwerkzeugen“ oder anderen Hilfsmitteln wie einem Rollstuhl
- Selbstbeschäftigung mit der Krankheit reduzieren und Proaktivität verbessern
- Selbstwertgefühl steigern durch sportliche Ziele
- Lebensqualität durch die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben stärken
Was ist mit Training bei MS möglich, sinnvoll, und was sollte beim vermieden werden?
Training umfasst konkret, ähnlich wie bei anderen neurologischen Erkrankungen, als zentralen Bestandteil dosiertes Krafttraining aller Extremitäten, speziell der Hände und Füße, Gleichgewichtstraining, Stärkung des Fußhebers, koordinatives und kontralaterales Training. Das bedeutet, dass Alltagsbewegungen die durch die gewohnt stärkere Körperseite, sprich Hand oder Fuß ausgeführt werden, verstärkt von der jeweils schwächeren und anderen Seite ausgeführt und geübt werden. So werden neue Bewegungsmöglichkeiten in anderen Gehirnarealen verankert und Alternativen erarbeitet.
Alle Trainingsmaßnahmen hängen natürlich von dem momentanen Gesamtzustand ab. Die Erfordernisse und Möglichkeiten hängen von diesem Gesamtbild und der Tagesform ab. Hier einige die Motorik fordernde und fördernde Beispiele für Trainingsinhalte:
Übungen auf dem Trampolin, softe Kampfsportelemente, Kraftraining mit dem eigenen Körpergewicht vor allem Körperkern stärkende Positionen, rhythmische Aerobicpassagen und Schwimmen. Prorgresssive Muskelentspannung und Stretching ergänzt dieses Ganzkörpertraining. Natürliche Alltagsbewegungen, Treppentraining, Bewegung in unebenem Gelände oä werden wiederholend in das Training integriert. Alles ist als funktionserhaltendes Training zu verstehen, was heute auch unter dem Die Bezeichnung Functional Fitness Training trifft hier wörtlich den Nagel den Kopf. Worauf ist bei der Trainingsteuerung zu achten? Hier einige allgemeine Hinweise:
Grenzen akzeptieren und Überforderung vermeiden
- Leistungssport mit hartem Training ist für die meisten MS Kranke nicht anzuraten, die eigene Leistungseinschätzung ist hier wichtig
- Training während eines Krankheitsschubes wäre eine enorme Überforderung, nur physiotherapeutische Maßnahmen sind dann weiterhin sinnvoll
- Breitensportliche Aktivitäten gemeinsam mit Gesunden sind möglich, nach Abprache mit den Trainingsleitenden Personen
- Schwitzen kann für MS Kranke eine große Belastung sein, da Nervenfasern durch Körpertemperaturerhöhung in ihrer Funktion eingeschränkt werden-sollte es dennoch vorkommen mit kühler Dusche oder Kühlweste ist das sogenannte „Uhthoff-Phänomen“ schnell behebbar
- Training generell immer mit einer leichten Aufwärmübungen anfangen
- Trainingseinheiten nur so lang das keine Übermüdng eintritt, ggf. Pausen einlegen
- nach dem Training Zeit zum Entspannen einplanen, es sollte eine spürbare Erholung erfolgen und möglich sein
- außreichend Trinken vor, während und nach nach dem Training
- bei sehr hohen Außentemparaturen Bewegung im Freien vermeiden
Wie erwähnt: die Tagesform bei MS Patienten schwankt mitunter sehr stark! Sensibel das subjektive Körpergefühl des Klienten zu berücksichtigen ist essentiell. Fordern beim Training ist wichtig, jedoch ist jegliche Überforderung zu vermeiden und ein absolutes NoGo. Auch der Spaßfaktor sollte durch die Beachtung der Präferenzen des Klienten und durch Abwechslung nicht zu kurz kommen.
Wie erwähnt ist jeder Fall ein Einzelfall und erfordert immer wieder eine erneute Abstimmung mit dem Klienten, vor jeder Trainingseinheit. Kraft entsteht durch Bewegung. Ich habe von meiner Klientin gelernt: Ständig auf einer „bitteren Kröte“ zu kauen und sich beschweren das diese nicht süss wird ist kein proaktives Verhalten. Und: Bewegung lohnt sich immer, gedankliche und körperliche!
Bin selbst betroffen von MS und kann alles hier bestätigen. Seit ich vor 2 Jahren mit dem Training begonnen habe, habe ich im Alltag mehr Kraft und komme nicht so schnell aus dem Gleichgewicht, was Stürzen vermeidet. Ich kann nur jedem raten, sich mit Krafttraining fitzuhalten, es lohnt sich wirklich. Ich finde Selbsthilfegruppen die sich gegenseitig bedauern nicht hilfreich. Meine Meinung, Spitzen Artikel, Enrico